ID: 748014
Überlieferte Märchen aus Atreia, Band 2
icon NSC
Stufe: 1
TP: 63
Aggresions Radius: 0m

Dialogs:

Die Märchen-Chroniken

Band 8: Jemma und der Glücklose Wendar

Vor vielen, vielen Jahren lebten einst zwei sehr unterschiedliche Personen.

Wendar war augenscheinlich ein gewöhnlicher Mann. Er war groß, dünn und blass ... und er war berühmt für sein nicht enden wollendes Pech. Als Wendar sich an der Feldarbeit versuchte, ging die Saat nie auf. Beim Holzhacken musste er beinahe den Verlust seiner Zehen in Kauf nehmen, und während seiner Arbeit als Tripeed-Lieferant wurde er fast von einem Brax über den Haufen gerannt.

Schon bald gingen ihm selbst seine Freunde aus dem Weg, in der Furcht, dass sein Unglück auf sie abfärben könnte. Also zog sich der einsame Wendar mit seinem alten und kranken Vater zurück ins ländliche Altgard. Doch das Pech folgte ihm auch dorthin - die Räder seines Wagens fielen ab, seine Deichsel zerbrach, und jedes Tier, das er auf dem Markt erwarb, wurde entweder krank, rannte fort oder war einfach zu nichts nütze.

Und so wurde er in ganz Asmodae als der "Glücklose Wendar" bekannt.

In einem fernen Teil Asmodaes lebte eine junge Frau namens Jemma, die von adliger Herkunft war. Sie war unermesslich reich, und Vater war Ofnyhr, ein angesehener Hohepriester in Pandämonium, den selbst die gesellschaftliche Elite achtete und verehrte.

Als Kind weinte Jemma bereits beim geringsten Anlass. Sie weinte über fallen gelassenes Spielzeug oder wenn die Luft auch nur etwas zu warm oder kalt war. Und je älter sie wurde, je mehr Anlässe fand sie, die sie zu Tränenausbrüchen veranlassten.

Schon bald erfüllte ihr Schluchzen Tag und Nacht das gesamte Haus. Ihre verzweifelten Eltern fanden nur ein Mittel, um ihre Tränen versiegen zu lassen - sie drohten ihr, sie mit dem Glücklosen Wendar zu verheiraten, sollte sie nicht aufhören zu weinen. Es versteht sich von selbst, dass der Glücklose Wendar der eine Mann war, den keine Asmodierin jemals heiraten würde, und so verfehlte diese kleine List kein einziges Mal ihre Wirkung.





Jemma wuchs zu einer schönen jungen Frau heran und stieg sogar zur Daeva auf, und so befand ihr Vater die Zeit für reif, ihr einen Mann zu suchen. Er machte sich umgehend daran, den bestmöglichen Kandidaten für seine Tochter zu finden. Jedoch brach Jemma beim Anblick jedes einzelnen Verehrers sofort in Tränen aus, bis sie sich schließlich schwor, niemals einen Mann zu heiraten, den ihr Vater auserkoren hatte.

Dann wirst du niemals heiraten, lauteten die harschen Worte ihres Vaters, "denn kein Mann DEINER Wahl wird dich jemals zur Frau nehmen wollen."

Als Jemma sich ausgeweint hatte, ersann sie einen Plan, der ihren Vater so sehr verletzen würde wie seine Worte sie verletzt hatten. Ihre ganze Kindheit lang hatten ihre Eltern ihr angedroht, sie mit dem Glücklosen Wendar zu vermählen, und so dachte sie sich, dass sie wohl gerade ihn heiraten sollte. Sie reiste umgehend nach Altgard - wobei sie natürlich über die gesamte Reise hinweg weinte - und stand schon bald vor der kleinen Hütte, die Wendar und sein Vater ihr Zuhause nannten.

Wendar!, rief sie, und Wendar öffnete die Tür (wobei er sich die große Zehe anschlug). "Ich bin Jemma, die Tochter von Ofnyhr", fuhr sie fort, "und ich bin hier, um Euch zu heiraten!"

Wendar schien sich seiner Sache nicht sicher, doch Jemma ließ sich von ihren Hochzeitsplänen nicht abbringen. Wendars Vater, der mit jedem Tag schwächer wurde, erklärte sich einverstanden, und nur wenig später war die Ehe geschlossen. Erst dann offenbarte Jemma Wendar den Rest ihres Plans: Sie würde nicht nur als verheiratete Frau zu ihrem Vater zurückkehren, sondern mit einem Daeva an ihrer Seite.

Und wieder zweifelte Wendar, doch Jemma ließ sich nicht umstimmen. Zunächst versuchte sie es mit einfachen Dingen, die laut den Geschichten, die sie von alten Weibern gehört hatte, jemandem zum Aufstieg verhelfen sollten. Schon bald hingen über jedem Türrahmen ihres Hauses Ätherkristalle und Wendar trank tapfer all die seltsamen Tränke, die seine neue Frau zusammengebraut hatte, obwohl er wusste, dass ihm keiner davon bekommen würde.

Trotz all ihrer Mühen blieb Wendar weiter ein Mensch. Also entschloss sich Jemma, drastischere Maßnahmen zu ergreifen ...









Eines Tages waren Jemma und Wendar tief in den Wäldern Altgards unterwegs, auf der Suche nach Beeren für das Mittagsmahl und Holz für ihr Feuer.

"Wendar", sagte Jemma, während sie in Richtung eines nahe gelegenen Hains deutete, "ich glaube, ich habe dort ein paar Beeren gesehen. Sieh doch bitte nach."

Der Kampf war schmerzlich einseitig: Wendar war kein Krieger, und als ihm klar wurde, dass er nicht die geringste Chance hatte, nahm er die Beine in die Hand. Der Karnif nahm die Verfolgung auf und riss Wendar mit einem Klauenhieb eine tiefe Wunde in den Rücken.

Jemma griff sofort ein und konnte die Bestie mithilfe ihrer Daeva-Fertigkeiten zurückschlagen. Sie eilte ihrem Mann zu Hilfe, doch als sie ihn umdrehte und in seine Augen blickte, war ihr klar, dass ihr Plan gescheitert war.

Wendar war noch immer ein Mensch.



Wendar war schwer verletzt, und als Jemma ihn nach Hause brachte, verspürte sie beißende Schuldgefühle, die sie natürlich sofort in Tränen ausbrechen ließen. Sie kümmerte sich zwei Tage und zwei schlaflose Nächte um Wendar, wischte ihm den Schweiß von der Stirn, gab ihm zu trinken, säuberte seine Wunden und verabreichte ihm Heilkräuter. Trotz ihrer Anstrengungen entzündeten sich seine Wunden immer stärker und ließen ihn in ein Fieberdelirium fallen.

Nach ihrer zweiten schlaflosen Nacht konnte Jemma ihre Augen schließlich nicht mehr offen halten und brach auf dem Boden zusammen. Als sie einige Stunden später wieder erwachte und nach oben sah, erblickte sie Wendars Hand, die schlaff über die Bettkante hing.

Wendar!, rief sie, und richtete sich sofort mit Tränen in den Augen auf. Sie war sich sicher, dass sie gerade den Tod eines unschuldigen und reinen Mannes verschuldet hatte, und war verzweifelt, weil sie selbst in seinen letzten Augenblicken nicht für ihn da gewesen war.







Wendar! Jemma packte ihn an den Schultern und schüttelte ihn. "Wendar!" Und so öffnete Wendar nun seine Augen und blickte sie an. Ein Lächeln erhellte sein Gesicht, und in diesem Augenblick sah sie etwas, das ihr die Sprache verschlug.

Er hatte diesen Blick ... den Blick der auserwählten Aufgestiegenen.





Wendar hatte sich vollständig erholt, während Jemma friedlich schlief, und bereits am nächsten Tag brachte ihm seine Frau den Umgang mit Äther bei. Es dauerte nicht lange, bis Jemma und Wendar unter großem Aufsehen die Tore Pandämoniums durchschritten. Jemmas Vater begrüßte beide mit offenen Armen und bat seine Tochter um Vergebung.

Alle Probleme in Jemmas und Wendars Welt schienen sich in Wohlgefallen aufgelöst zu haben. Doch wie wir alle wissen, ist nicht alles, wie es scheint ...

Wendar wurde schon bald zu einem der angesehensten Kleriker Asmodaes, und als er in eine der ersten Truppen berufen wurde, die in den jüngst geöffneten Abyss entsandt werden sollten, war niemand überrascht.

Doch Marchutan, der Gebieter des Schicksals, hatte seine letzte grausame Karte noch nicht ausgespielt. Wendar und dreiundzwanzig weitere tapfere Daevas durchschritten eines Tages einen Riss ... und sollten niemals wieder zurückkehren. Der Riss hatte sich einfach hinter ihnen geschlossen und sie für immer an einem unbekannten Ort gestrandet zurückgelassen. Manche geben Wendars Unglück die Schuld, Jemma jedoch nur sich selbst.

Und so ergriff sie die Flucht und ward nie wieder gesehen. Manche sagen, sie durchstreife die Wildnis Asmodaes, von Trauer und Schuld in den Wahnsinn getrieben. Andere behaupten, ihr Schluchzen auf den Feldern von Altgard zu hören, in der Nähe der kleinen Hütte, die Wendar und sein Vater einst ihr Zuhause genannt hatten.

Über eines sind sich jedoch alle einig: Dass Jemma nun wenigstens einen wahren Grund für ihre Tränen hat.





Login to edit data on this page.
BBCode
HTML

Elyos
Asmodier